Ärzte in Prävention und Therapie der Tabakabhängigkeit.
Rote Reihe Tabakprävention und Tabakkontrolle, Band 4. DKFZ, Heidelberg.
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Rauchen im
Kindes- und Jugendalter
Dr. Wolf-Rüdiger Horn
·
In Deutschland rauchen 20
Prozent der 12- bis 17-Jährigen
ständig oder gelegentlich. Etwa ein Drittel der jugendlichen
Gelegenheitsraucher geht bis zum zwanzigsten Lebensjahr zum
täglichen
Zigarettenkonsum über, über 80 Prozent der täglichen
Raucher bleiben bei ihrem
Konsummuster.
·
Wegen der unreifen
neuronalen Transmittersysteme entwickelt
sich bei Jugendlichen eine Tabakabhängigkeit schneller als bei
Erwachsenen.
·
Nikotin kann im noch
nicht vollständig entwickelten
jugendlichen Gehirn bleibende Schäden verursachen und
beispielsweise zu
Depressivität und Beeinträchtigungen der Denk- und
Gedächtnisprozesse führen.
·
Die
Primärprävention mit Bestärkung des Nichtrauchens ist
bei Kindern und Jugendlichen sehr wichtig.
·
Rauchstoppmaßnahmen
sind möglichst frühzeitig zu initiieren.
Vorsorge- und Sportuntersuchungen, aber auch krankheitsbedingte
Konsultationen
wie bei Asthma können als Gelegenheiten zum Gespräch
über den Konsum von
psychoaktiven Substanzen wie Tabak genutzt werden.
·
Der Einsatz von[d1]
Nikotinersatzpräparaten hat bei Jugendlichen keinen Erfolg und
sollte wegen der
möglichen Beeinträchtigung zerebraler Reifungsprozesse
unterbleiben.[d2]
·
Der Arzt kann als
Vertrauensperson über das hohe
Suchtpotenzial von Nikotin und über die Gesundheitsgefahren von
Rauchen und
Passivrauchen informieren. Er kann Jugendliche beim Rauchstopp
unterstützen und
begleiten.
Hintergrund
Nach der jüngsten
Erhebung der BZgA
rauchen in Deutschland 20 Prozent der Jugendlichen im Alter von 12 bis
17
Jahren4. Seit den 1990er Jahren
rauchen etwa gleich viele Jungen
wie Mädchen4 (Abb. 21). Die ersten
Raucherfahrungen machen Jugendliche
durchschnittlich zwischen dem 13. und 14. Lebensjahr3. In jüngster Zeit
wurde bei Jugendlichen zudem das Rauchen
von Wasserpfeifen, das als vergleichbar gesundheitsschädlich
eingeschätzt
werden muss [d3]wie das
Zigarettenrauchen, immer populärer
Abbildung
21:
Rauchprävalenz der
12- bis 17-jährigen Jugendlichen in Deutschland in Prozent.
Quelle:
Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung 20064; Bearbeitung: Deutsches
Krebsforschungszentrum Heidelberg,
Stabsstelle Krebsprävention, 2007.
Etwa ein Drittel der
jugendlichen
Gelegenheitsraucher geht bis zum zwanzigsten Lebensjahr zum
täglichen
Zigarettenkonsum über, ein Drittel bleibt Gelegenheitsraucher und
ein Drittel
hört wieder auf, 84 Prozent der täglichen Raucher rauchen
weiterhin täglich, 10
Prozent rauchen gelegentlich, nur 6 Prozent haben aufgehört19. Nur wenige Jugendliche
wissen über das hohe
Abhängigkeitspotenzial von Nikotin Bescheid14. [d5]
Einfluss
des
Rauchens
Nikotin führt im
mesolimbischen System zu einem Anstieg von
Dopamin und damit zu Glücks- und Entspannungsgefühlen.
Über Bahnung,
Konditionierung und Lernvorgänge entsteht eine Tabakabhängigkeit.
Erste Anzeichen einer Abhängigkeit können
bereits nach dem Konsum nur weniger Zigaretten auftreten. Aufgrund der
Unreife
der neuronalen Transmittersysteme entwickelt sich bei Jugendlichen eine
Abhängigkeit schneller als bei Erwachsenen. Fast ein Viertel aller
12- bis
13-jährigen Rauchanfänger hat bereits nach vier Wochen erste
Entzugssymptome,
obwohl sie zum Teil nicht einmal täglich rauchen11. Dies ist besonders
beachtenswert, da Jugendliche, die
zeitig in den Konsum einsteigen, ein hohes Risiko aufweisen, starke
Raucher zu
werden und frühzeitig eine tabakattributierte Krankheit zu
entwickeln. Zudem
haben sie eine geringere Motivation zu einem Rauchstopp 2,5,6,8,9,21.
Im adoleszenten Gehirn
ist die Entwicklung der Neurotransmittersysteme und
der
synaptischen Verknüpfungen noch nicht abgeschlossen. Das
Neurotoxin Nikotin
kann bleibende Schäden im Serotoninhaushalt und im
präfrontalen Kortex und
dadurch Depressivität und Beeinträchtigungen von Denk- und
Gedächtnisprozessen
verursachen15.
Positive Wirkung einer
Tabakentwöhnung
Da nur sehr wenige
Menschen im Erwachsenenalter mit dem
Rauchen beginnen, ist die Primärprävention
bei Kindern und Jugendlichen mit Bestärkung des Nichtrauchens10 und einer allgemeinen
Gesundheitsförderung mit Aktivierung
persönlicher, familiärer und schulischer Ressourcen (mit
Elementen einer „gesunden
und guten Schule“, beispielsweise Lebenskompetenztrainings und
Stärkung von
Kompetenzen und Selbstwirksamkeitserwartungen) sehr wichtig7. Sekundärprävention
in der Praxis setzt eine entwicklungsadaptierte, partnerschaftliche
Kommunikation mit Jugendlichen voraus und sollte auf
Schadensminimierung
ausgerichtet ein. Sie sollte Elemente einer lösungsorientierten
und
motivierenden Gesprächsführung beinhalten14. Bisher gibt
es noch keine eindeutige
Evidenz für die Wirksamkeit von Rauchstoppinterventionen von
Jugendlichen,
vielversprechend sind aber komplexe
Maßnahmen, die das Umfeld des Jugendlichen einbeziehen13,20. Therapeutisches Handeln
wird dadurch erschwert, dass der
Raucheranteil bei sozial benachteiligten Jugendlichen mit geringer
Schulbildung
oder Ausbildung besonders hoch ist. Auf Nikotinersatzpräparate
sollte bei
Jugendlichen gänzlich verzichtet werden, da bisher keine
überzeugende Wirkung
nachgewiesen wurde und mit neurotoxischen Effekten beim sich
entwickelnden
jugendlichen Gehirn gerechnet werden muss12 [d6]. Ärztliches Handeln
muss eingebettet sein in
multidisziplinär arbeitende Netzwerke und sollte im Sinne von
„child advocacy“
einwirken auf strukturelle und die soziale Akzeptanz des Rauchens
insgesamt
beeinflussende Maßnahmen der Gesundheitspolitik wie Preispolitik,
Werbeverbote,
Jugendschutz, Nichtraucherschutz und rauchfreie Schulen.
Voraussetzung für
Prävention und Behandlung von
Tabakproblemen bei Jugendlichen in der ärztlichen Praxis ist die
Kenntnis der
Motive zur Rauchinitiation14, da das Rauchen für
sie eine andere Bedeutung hat als für
Erwachsene1. Bei ihnen stehen
Neugier, Identitätssuche, Erwachsensein
wollen, Normenverletzung und die Imitation von Vorbildern in der
Familie und
vor allem im Freundeskreis im Vordergrund. Aber auch genetische
Faktoren,
Temperamentsvariablen, psychische Störungen, Schulunlust und
Schulprobleme,
subkulturelle Verhaltensmuster und bei Mädchen auch die
Gewichtsregulierung
können eine Rolle spielen18. Ein bisher wenig
beachteter Prädiktor ist die
psychologische Reaktanz, also die Abwehrreaktion bei der Bedrohung von
Freiheit
und Autonomie durch Verbote17. Statt der
“Verordnung” von Abstinenz haben sich in der
jugendärztlichen Praxis motivierende und die Selbsthilfe anregende
Materialien
wie „Just be smokefree“ (www.justbesmokefree.de)
bewährt16. [d7]
Tabakprävention
in Kinder- und Jugendarztpraxen:
●
Bei allen Kindern und
Jugendlichen sollte der Arzt regelmäßig den Rauchstatus
erheben, dazu gehört
auch das Rauchverhalten von Eltern, Geschwistern und Freunden.
●
Ärzte können
als
Vertrauensperson Jugendliche sachlich über das hohe Suchtpotenzial
von Nikotin
und die Schädlichkeit des Rauchens und Passivrauchens informieren
und direkt
auf die manipulativen Werbestrategien der Tabakindustrie zur
Förderung des
Rauchens unter Jugendlichen hinweisen.
●
Mädchen, die orale
Kontrazeptiva nehmen, sollte der Arzt darüber aufklären, dass
Rauchen bei ihnen
das Risiko für Thromboembolien erhöht.
●
Rauchende Jugendliche
mit Asthma und Diabetes sollte der Arzt über die doppelte
Belastung ihrer
Organe aufklären.
●
Bei rauchenden
Jugendlichen muss der Arzt wegen der erhöhten psychischen
Vulnerabilität durch
Tabakkonsum auf Anzeichen einer eventuell zugrundeliegenden Depression
achten
und nach möglichen Stärken und Ressourcen fragen, die zur
Lösung von Problemen
aktiviert werden könnten.
●
Jugendliche, die mit
dem Rauchen aufhören wollen, kann der Arzt beim Rauchstopp
unterstützen.
Kontakt mit dem Jugendlichen in den Tagen direkt vor dem Rauchstopp und
in den
ersten Wochen danach kann den Jugendlichen bei der Umsetzung
bestärken. [d8]
●
Rauchende Eltern muss
der Arzt bei den Vorsorgeuntersuchungen deutlich und ohne Vorwurf auf
die
Gesundheitsgefahren [d9]durch Passivrauchen sowie
auf die Vorteile einer rauchfreien
Umgebung hinweisen.
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[d1]Kunstmann: („sogenannt“ streichen, um nicht unnötige Verunsicherungen durch Metadiskussionen hervorzurufen
[d3]Kunstmann:
„genauso“ ist
fraglich, auch sind mir keine entsprechenden Lanbgzeituntersuchungen
bekannt,
daher alternativ: „Das als vergleichbar gesundheitsschädlich
eingeschätzt
werden muss“
Batra:
Ist „genauso“ berechtigt??? Oder „auch“
[d4]Kunstmann:
Tabelle besser grafisch darstellen, da Verläufe – auch zwischen den Geschlechtern – dadurch deutlicher werden.
[d5]Quelle eingefügt
[d6]Kunstmann:
fragliche Position,
da sich die deutschen Leitlinien dazu anders äußern
Batra:
Die Studien haben wenig Resultate gebracht, da vile der Jugendlichen körperlichen noch nicht so stark abhängig sind (Widerspruch zu oben?) Andererseits kann ein Jugendlicher mit 18, der schon 6 Jahre abhängig raucht, im Einzelfall mit Nikotinersatz besser bedient sein, als mit der Zigarette
DKFZ:
Daher Zusatz:
Bei schwerer Abhängigkeit von Jugendlichen, die bereits mehrere Jahre rauchen, kann im Einzelfall der Einsatz von Nikotinersatzpräparaten erwogen werden.
[d7]Kunstmann:
wenn man „just be
smokefree“ explizit nennen will, sollte man auch andere
Möglichkeiten/evaluierte Programme nennen.
Batra:
Könnte
nicht neben "just be smokefree" noch ein weiteres Programm genannt
werden, um dies etwas zu relativieren?
DKFZ:
Da „just be smokefree“ das einzige evaluierte Programm ist, das zum Einsatz in Arztpraxen geeignet ist, kann es so stehen bleiben.
[d8]Hier wurde „Just be smokefree“ gestrichen, da es oben im Text bereits genannt ist.
[d9]Kunstmann: (bestehen nicht nur für Kinder!)