Krebs als Spätfolge des Passivrauchens als Kind? Neue Ergebnisse aus der EPIC-Studie (Chuang SC et al., Cancer Causes Control 2011), Kommentar von Manfred Neuberger
Passivrauchen im Kindesalter wird vor allem mit Erkrankungen der Atemwege in Zusammenhang gebracht. Die von den Kindern eingeatmeten Karzinogene lassen aber auch ein erhöhtes Krebsrisiko vermuten, doch gibt es dazu widersprüchliche Studien und nur wenige Langzeitbeobachtungen, die auch für andere krebsfördernde Einflüsse während der langen Beobachtungszeit ausreichend kontrollierten. Dass bisher für das Passivrauchen von Erwachsenen zu Hause und am Arbeitsplatz mehr Krebsrisken entdeckt wurden als für das Passivrauchen von Kindern, liegt möglicherweise nur an den methodischen Problemen bei der Erfassung der kindlichen Exposition und Nachbeobachtung. Ein besonderes Problem solcher Studien ist auch die Selektion von Personen, die sich trotz rauchender Eltern oder Betreuungspersonen nicht zum Aktivrauchen verführen lassen. Denn nur an dieser besonderen Gruppe kann die alleinige Wirkung des Passivrauchens über Jahrzehnte studiert werden.
EPIC, eine Europäische Prospektivstudie zu Krebs und Ernährung (Riboli E; Public Health Nutr 2002;5:1113) beobachtete 112.430 Nieraucher (88% Frauen!) aus 10 Ländern (mit weniger strengen Datenschutzbestimmungen als Österreich) über durchschnittlich 10 Jahre (in der Zeit von 1992-1998 bis 2002-2006) mittels nationaler Krebsregister. Der umfangreiche Fragebogen, den die Personen freiwillig beantwortet hatten, mag eine Selektion gesundheitsbewusster Menschen verstärkt haben, ermöglichte aber die Kontrolle von Bildung, Body Mass Index, körperliche Aktivität, Kalorien-, Alkohol-, Gemüse- und Obstkonsum sowie Passivrauchen. Allerdings lag das Alter bei Aufnahme in die Studie zwischen 25 und 70 Jahren, sodass die Angaben zum Passivrauchen als Kind sehr vom Erinnerungsvermögen abhingen. Die Studie war primär zur Erfassung ernährungsbedingter Krebsrisken geplant und berücksichtigte daher auch den Fleischkonsum bei Karzinomen des Verdauungstraktes, den Diabetes beim Pankreaskarzinom, aber auch reproduktive Faktoren bei Mamma-, Cervix- und Uteruskarzinom.
Frühere Analysen der EPIC-Daten hatten bereits ein um 50% erhöhtes Risiko für ein Pankreaskarzinom für alle Passivraucher nachgewiesen (Vrieling A; Int J Cancer 2010;126:2394), das von Bildung und Ernährung unabhängig war, aber das 2,6-fach erhöhte Risiko bei täglich mehrstündigem Passivrauchen als Kind war nicht signifikant. Jetzt gelang es Chuang et al. (Cancer Causes Control 2011) ein mit 2.09 (1.14–3.84) signifikant erhöhtes Risiko für Pankreaskarzinom bei Nierauchern nachzuweisen, die als Kind täglich passiv rauchen mußten. Dieses Ergebnis ist aus den Daten Frankreichs und Italiens abgeleitet, die als einzige nach der Dauer und Häufigkeit des Passivrauchens fragten. Das Risiko wurde für Bildungsgrad, Ernährung (Alkohol, Energiezufuhr, Obst- und Gemüsekonsum), körperliche Aktivität, Diabetes und Passivrauchen als Erwachsener adjustiert. Das Resultat bestätigt die Ergebnisse einer amerikanischen Prospektivstudie an nichtrauchenden Krankenschwestern, die das Rauchen der Mutter mit dem späteren Auftreten von Pankreaskarzinomen bei den Töchtern in Zusammenhang gebracht hatte (Bao Y; Cancer Epidemiol Biomark Prev 2009;18:2292).
Verantwortlich für die Zunahme der Pankreaskarzinome könnten durch Tabakrauch und Radikale unterhaltene chronische Entzündungsvorgänge (Wittel UA; Am J Gastroenterol 2006;101:148) und tabakspezifische Nitrosamine sein, die auch im Tierversuch Malignome in Pankreas, Lunge und Gehirn auslösen (Hecht SS; Nat Rev Cancer 2003;3:733).
Für eine relativ schlechte Erfassung der Tabakrauch-Exposition in der Studie von Chuang SC (2011) spricht das Fehlen einer signifikanten Beziehung zwischen kindlicher Tabakrauchexposition und Lungenkrebs, die von mehreren anderen Studien nachgewiesen wurde (z.B. Harris C; Cancer Epidemiol Biomarkers Prev 2009;18:3375). Auch innerhalb der EPIC-Studie war für täglich mehrstündiges Passivrauchen als Kind ein 3,6-fach höheres Lungenkrebsrisiko nachgewiesen worden, allerdings unter Einbeziehung von Exrauchern und mit Kontrolle des Serumkotinins (Vineis P; BMJ 2005;330:277). Bemerkenswert erscheint bei der Studie von Chuang SC (2011), dass in 8 Ländern nur nach dem elterlichen Rauchen gefragt wurde, während Frankreich und Italien auch die Dauer des Passivrauchens in Gaststätten, Schulen und bei Verwandten erhoben und dabei einen Trend für eine Zunahme von Malignomen aller Lokalisationen fanden. Das Krebsrisiko war hier durch tägliches Passivrauchen als Kind auf 1.07 (0.99–1.15) erhöht was die Signifikanz nur knapp verfehlte.
Täglich passiv rauchende Mädchen wiesen ein mit 2.02 (1.02–3.99) signifikant erhöhtes Risiko für ein Cervixkarzinom auf. Es lagen zwar keine Daten über HPV-Infektionen vor, aber die vom Aktivrauchen bekannte Kombinationswirkung von HPV und Tabakrauch ist auch beim Passivrauchen von Kindern nicht auszuschließen. Für andere Malignome waren die beobachteten Fallzahlen zu gering, um ein Risiko auszuschließen. Ein signifikant erhöhtes Blasenkrebsrisiko wurde allerdings in einer früheren EPIC-Studie beschrieben (Bjerregaard BK; Int J Cancer 2006;119:2412). Die Ergebnisse von Chuang SC (2011) konnten zwar die schwedischen Ergebnisse zu Leukämien und Lymphomen (Mucci LA; Cancer Epidemiol Biomark Prev 2004;13:1528) und Hirntumoren durch Passivrauchen (Brooks DR; Cancer Causes Control 2004;15:997) nicht bestätigen, aber auch nicht widerlegen. Hirntumore wurden auch im Tierversuch durch die beim Passivrauchen bedeutsamen Nitrosamine beobachtet.
Zusammenfassend meinen Chuang et al., dass Passivrauchen in der Kindheit mit Ausnahme des Pankreaskarzinoms wohl keine bedeutende Krebsursache wäre. Vernachlässigt wird dabei, dass auch die retrospektive Erhebung der Tabakrauchexposition, die zumindest in 8 von 10 Ländern auch unpräzise war, zu den negativen Ergebnissen geführt haben könnte. Dazu kommen mögliche Überadjustierungen (Korrelation zwischen Passivrauchen als Kind und als Erwachsener), Selektionsbias durch Teilnahmebereitschaft und ungenügende Personenjahre zur Entdeckung mittlerer Risikoerhöhungen bei seltenen Lokalisationen. Es ist daher zu hoffen, dass sich zukünftige Studien des Problems mit verbesserter Methodik annehmen.